Sonntag, 9. Dezember 2007

Mäuse - Versuchstiere in der "Jackson Laboratory"

Artikel von: http://www.zeit.de/archiv/2002/30/200230_m-maeusefarm.xml?page=all

Zeitschrift "Die Zeit" 2006 (Ausschnitt)

Mäuse - Versuchstiere in "Jackson Laboratory"

"Die spastische "Punkrocker"-Maus Paigen spricht mit der Unerschütterlichkeit eines Überzeugten, dem es egal ist, ob seine Worte verstören - zumal er die Gunst der Geschichte gerade auf seiner Seite weiß. Die moderne Biomedizin umwirbt die Menschheit mit der Vision, die größten Gesundheitsgeißeln besiegen zu können, und sie stützt diesen Anspruch vor allem auf die Forschung mit der Maus. Dass im Mai 2002 das Genom des unscheinbaren Nagers veröffentlicht wurde, heizt den Boom noch weiter an; nun können die Forscher noch gezielter Gene ansteuern. "Wir haben für jedes menschliche Gen sein Pendant in der Maus gefunden", jubelte schon vor zwei Jahren Genomforscher Craig Venter, Exchef von Celera. Das bedeutet, dass die Forscher an Mäusen all jene Versuche machen und Therapien testen können, die sie an Menschen nie wagen würden. "Das menschliche Genom ist eigentlich nur aus psychologischen Gründen interessant", sagte Venter.
Doch je mehr an Mäusen geforscht wird, desto unersetzlicher werden "Mutantenfarmen" wie das Jackson Lab (JAX). Eine simple Rechnung: Die Maus besitzt schätzungsweise etwa 30 000 Gene mit je rund fünf möglichen Mutationen. Wollte man auch nur diese 150 000 Genotypen studieren (ohne die unermessliche Zahl ihrer Kombinationen zu berücksichtigen), müsste man mindestens 60 Millionen Mäuse züchten, sagen Experten, denn jede Kolonie benötigt ein paar hundert Tiere. Schon jetzt aber kommen die Forscher kaum noch mit dem Ställebauen nach. Sie überschwemmen Jackson mit Bitten, ihre abgehalfterten Mutanten zu adoptieren, doch das gemeinnützige Institut kann jährlich nur rund 100 neue Arten aufnehmen. "Es ist so, als wolle man sein Kind in einer exklusiven Privatschule unterbringen", witzelte einst ein Mitglied jenes Komitees, das über die Aufnahme der Mausbewerber entscheidet. Es geht um ein Bleiberecht auf Ewigkeit. "Wir werfen nie etwas weg", sagt Paigen. Erst kürzlich taute eine Forscherin eine in den fünfziger Jahren entdeckte Mutation auf und fand einen Gendefekt, der helfen könnte zu erklären, warum das Gehirn bei Leiden wie Alzheimer bis zu einem frühen Tod degeneriert.
Die Krämerseele seiner Betreiber verschafft dem Jackson Lab eine einmalige Spitzenposition. Zwar ist das 1929 gegründete Institut nicht der größte Mauszüchter - diese Ehre gebührt den Charles River Laboratories, die allein im Jahr 2000 für 190 Millionen Dollar Versuchstiere verkauften - doch niemand auf der Welt hat mehr Mutanten als JAX, 2700 "Modelle" insgesamt. Sie leben in endlosen Reihen schuhschachtelartiger Plastikcontainer in 20 klimakontrollierten mouse rooms, in die kein Journalist hineindarf. Das liegt an einem Reporter der New York Times, einerseits. Er kam vor zwei Jahren, plauderte mit den Forschern, guckte in die Käfige und schrieb einen Artikel, gespickt mit beklemmenden Details: Wie die spastische Maus, von den Forschern Punkrocker genannt, ihren Kopf rhythmisch gegen die Käfigwand schlug; wie die Fettmaus deprimiert in der Ecke hockte, weil sie so grotesk dick ist, dass sie kaum eine Pfote vor die andere setzen kann. Auch die Anspielung auf "Mauschwitz" kam im Jackson Lab nicht gut an. " Dabei war er so ein intelligenter Kerl, hat gleich kapiert, wie wichtig die Mausforschung ist", sagt Paigen, und seine Stimme hat wieder diesen flachen Ton. "Seitdem jedenfalls", trällert Joyce Peterson, "lassen wir keine Reporter mehr in die mouse rooms."
Andererseits besteht das Zutrittsverbot wegen der drakonischen Hygieneregeln. Viele von Jacksons Mäusen können auf über 20 Generationen Inzest zurückblicken. Das sorgt für reproduzierbare Forschung - und für empfindliche Sensibelchen. Manche Käfige haben ihre eigene Luftversorgung. Andere dürfen nur mit Vorsicht angefasst werden, weil jeder Rums ihre überzüchteten Insassen hysterisch erbeben lässt. Weniger als 20 Grad, und die Mäuse schütteln sich vor Kälte. Mehr als 23, und sie sterben an Überhitzung. Sie sterben überhaupt oft, bevorzugt an Dingen, die sich im normalen Leben nie vermeiden lassen: Bakterien und fremden Keimen etwa. "Deshalb wird alles im Leben unserer Mäuse sterilisiert", sagt Joyce Peterson, die bleistiftdünne Medienbeauftragte.
750 000 Mäuse, mehr als Frankfurt Einwohner hat, quieken, fressen, trinken und defäkieren jeden Tag im JAX. Von den 1205 Angestellen des ge-meinnützigen Instituts sind fast tausend ausschließlich damit beschäftigt, die Nager zu verwalten und zu pflegen. In keimfreien Overalls reinigen sie Käfige, füllen Wasserflaschen, verteilen Futterpellets. Manche tun nichts anderes, als die Plastikheime der Mäuse und die Sägespäne, auf denen sie sitzen, durch hocherhitzende Autoklaven zu jagen.
Mutanten von anderen Instituten werden über einen Plastikschlauch in eine gesonderte Quarantänestation geschleust, die nur über zwei Wege mit dem Rest des Labors verbunden ist: über eine jodgefüllte Durchreiche und einen Miniaturaufzug, genannt mousevator. Die Neuankömmlinge landen unter einem sterilen Plastikzelt. Falls die Weibchen nicht schon trächtig sind, werden sie dort befruchtet und verlassen ihr Quarantänezelt erst am Tag der Geburt. Ein Laborant trägt sie zum Operationssaal und entfernt die Gebärmutter samt Babys. Der Nachwuchs gleitet in einen Plastikbecher, wird auf die Stahltrage des mousevator gesetzt und ruckelt eine Etage höher in die sterile Aufzuchtstation. Dort nimmt ein anderer Laborant den Plastikbecher, belebt die Babys mit einem Q-Tip und schiebt sie einer garantiert keimfreien Adoptivmutter unter. Persönliche Kontakte zwischen den Pflegern der Aufzuchtstation und jenen der Quarantäne sind tabu. Letztere gelten als "schmutzig", dürfen das Labor nur durch ihren eigenen Eingang betreten, müssen Lunch in einem gesonderten Pausenraum essen. "Sie sind die Unberührbaren", sagt Peterson und kreuzt ihre Finger in einer vade retro-Geste. Für Außenstehende muss das wie ein seltsamer Kult wirken.
Das Museum entarteten Lebens
Doch selbst Jackson kann nicht alle seiner Modelle "gebrauchsfertig" im Regal halten. Rund die Hälfte des Inventars lagert kostenschonend auf Eis in der Abteilung Cryopreservation. Dort führt Carlisle Landel - ein kerniger Typ mit Bluejeans, Pferdeschwanz und winnetoubraunem Gesicht - in einen Saal, in dem sieben brusthohe Stahlcontainer schimmern wie Attrappen eines Science-Fiction-Films. "Unsere Tank-Farm", sagt Carlisle, streift sich einen klobigen Handschuh über und klappt einen der Deckel hoch. Minus 190 Grad kalter Nebel, flüssiger Stickstoff, wirbelt empor. Mit einer überdimensionierten Pinzette zieht Carlisle eines der säuberlich eingeschichteten Metalletuis heraus. Es ist proppenvoll mit Mäuseembryonen, jedes nicht größer als ein Staubkorn...."

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